Ilija Trojanow entwickelt in seinen drei Poetikvorlesungen „Vermessenes Schreiben“, „Der entfesselte Globus“ und „Osten ist nördlich von südlich“ seine Poetik einer „Karthographie der Phantasie“. Er schreibt zu den Vorlesungen: Auf einer alten englischen Karte trägt ein Dorf am Euphrat einen Namen, der in der einheimischen Sprache „weiß nicht“ bedeutet. Kartographie gilt als Teil der Mathematik – was für ein Irrtum. Karten sind Fiktionen. Manche Aspekte stehen im Mittelpunkt, andere werden verfälscht. Karten sind Erzählungen, sie schaffen Realitäten: 1569 publizierte der flämische Kartograph Gerardus Mercator die erste Weltkarte. Mit ihm wurde die Fiktion der geraden Linie (der Traum aller Perfektionisten) etabliert. Die Welt besteht seitdem für manche Menschen aus Rechtecken, und Grönland ist genau so groß wie Südamerika. Erzählungen bedienen sich Karten: Wer könnte das Schattengebirge zwischen Mordor und Gondor je vergessen. Auf Märchenkarten steht „Hier lauern Löwen“ oder „Drachen zuhauf!“, auf Satellitenkarten wird die Welt in 6-Grad-Zonen unterteilt, auf Genkarten werden die Geschenke der Vergangenheit ausgepackt. Vermessung schafft Entfernung, Befremdung. Durch Karten kann die Welt schrumpfen und der Mensch wachsen. Ein wundersamer Sprung, ein doppelter Gulliver sozusagen. Karten können Ich-Erzähler sein, wie die egozentrische Azimuthal Equidistant Projection. Die eigene Position steht stets im Mittelpunkt, die literarische Karte par excellence, denn sie verändert sich mit jeder Bewegung. Karten bedienen sich Linien, und Linien bedingen Grenzen. WIR – oberhalb der Grenze; die ANDEREN – unterhalb der Grenze. Nur der selbst Erfundene kann gleichzeitig an zwei Orten sein.