Mittwoch,
25.10.00
20:00

In der Mnemotechnik der Tage – Lyrik aus Polen

Eintritt frei

Veranstalter: Literaturhaus

In der Mnemotechnik der Tage – Lyrik aus Polen

Veranstalter: Literaturhaus

"IN DER MNEMOTECHNIK DER TAGE" – PIOTR SOMMER, KRYSTYNA LARS, BRONISLAW MAJ, MARZANNA KIELAR, MACIEJ NIEMIEC, ANDRZEJ STASIUK Eine lange Nacht: aktuelle Poesie aus Polen "Wo sind wir? In den Ironien, die keiner erfaßt, kurzlebig und beiläufig […] in der Mnemotechnik der Tage. Man kann ein Beispiel geben, und man kann es annehmen auf gut Glück, die Katze in Sack und Pack. Und man liebt noch bestimmte Wörter und, mit Verlaub, die Syntaxen, die so tun, als verbänden sie etwas miteinander […]" (Piotr Sommer) Schwerpunkt-Thema der soeben zu Ende gegangenen Frankfurter Buchmesse war Polen, ein geografisch nahes, literarisch jedoch sehr weit entferntes Land, kaum erschlossen für die lesenden Nachbarn, besonders was die Übersetzungen jüngerer Autoren auf dem deutschsprachigen Buchmarkt betrifft. Das gilt vor allem für die Lyrik. Abgesehen der polnischen Klassiker Tadeusz Róewicz, Czeslaw Milosz, Wislawa Szymborska oder Zbigniew Herbert sind ihre Namen unbekannt. „Der Eigensinn der polnischen Literatur”, so schreibt der verdienstvolle Vermittler zwischen polnischer und deutschsprachiger Literatur, Karl Dedecius, „schafft Verständnisschwierigkeiten, aber auch Originalität und Reiz. Diese Originalität ist keinesfalls Marotte oder intellektuelle Koketterie. Sie ist Abwehrhaltung, sie ist Folge der anderen, uns meist fremden Lebensbedingungen und historischen Zwänge. Was uns wie eine Geheimschrift, da und dort, anmutet, ist den Betroffenen vertraute Verständigungsweise, Kon-Versation, ja sogar Unterhaltung. Kassiber natürlich auch. Es ist aufregend zu entdecken, was sich dahinter verbirgt. Es ist bemerkenswert, wie wir in unserer Zeit der geradezu totalen Kommunikation, da uns die Presse, die Bulletins, das Fernsehen, die Computer in nahezu jedes Geheimnis einweihen, in jeden Winkel der Welt führen, in nahezu jedes Schlafzimmer blicken lassen, dennoch über vieles, was wesentlich ist, was öffentlich sein sollte und doch unzugänglich bleibt, nicht unterrichtet sind […] Auch Gedichte schreiben Geschichte; vor allem in Polen und vor allem in unserer Zeit." Mitte der Achtziger Jahre tauchten in Polen die Jungen Rebellen auf, die Gedichte mit Rock und Punk mixten, wie beispielsweise Marcin üwietlicki und seine Band "Swietliki" (Glühwürmchen). Umgangssprache, Flüche, Slang, Motive aus der Massenkultur kamen als neues Zeitmaß und als immanente Bausteine zum Gefüge der Poesie hinzu. Das korrespondierte mit dem gewandelten Lebensgefühl der Dichter, die nicht mehr in einem offiziellen Status, sondern in der alternativen Subkultur (nicht zu Verwechseln mit politischer Opposition) zu Hause waren und sich hier konsolidiert hatten. Ihre Zeitschrift hieß demzufolge auch "bruLion" (Die Kladde), und die Schreibweise deutet selbstironisch mögliches Wappentier und Lautstärke an. Auch die Öffnung in Richtung Westen spielte in diesen Jahren in der polnischen Literatur eine entscheidende Rolle. In einer mittlerweile legendären Edition von 1986 der Literaturzeitschrift Literatura na üwiecie (Literatur in der Welt), von Piotr Sommer herausgegeben, war bis dahin völlig unbekannte New Yorker Lyrik vorgestellt worden, darunter Frank O’Hara, der unmittelbar zahlreiche Nachahmer in Polen fand, so daß man zeitweise von einem O’Harismus als poetische Richtung sprach. Die Kritik gab den jungen Rebellen aufgrund ihres Nonkonformismus auch den Zweitnamen Junge Barbaren, doch die sprachlichen Schockelemente waren ohnehin nur eine Aufnahme dessen in die Literatur, was die Gesellschaft veränderte. Nicht zuletzt hatte das über Polen verhängte Kriegsrecht den Normzustand mehr als alles andere erschüttert. Die Zeit nach der Wende 1989 kennzeichnet eine Poesie der Objektivierung und der Distanz, die jegliches von der sozialistischen Gesellschaft geforderte Engagement schon immer kategorisch abgelehnt hatte, die sich auch jetzt nicht funktionalisieren ließ. Sie beobachtete, äußerst genau, nicht zuletzt sich selbst. Die Sichtabstände dabei sind, je nach Dichter oder Dichterin, verschieden und auch unterschiedlich sprachlich ausgeformt. Für die letzten Jahre in den 90ern kommt, die Richtung völlig umkehrend, der Neue Klassizismus hinzu, die polnische Literaturkritik zählt zu denjenigen, die sich in dieser Form äußern, unter anderem Krzystof Koehler, Andrzej Sosnowski, Marcin Baran und tendenziell auch Andrzej Stasiuk. Koehler charakterisiert sein Schreiben als "eine vollkommen bewußte Verankerung in der Kultur". Was bis hierhin noch keine Einordnung erfuhr, wird schließlich unter dem Blickwinkel der Neuen Privatheit, ein für jeden Fall verwendbarer Begriff, scheint es, eingeordnet. Hierunter werden alle diejenigen Poeten verschiedener Generationen betrachtet, für die weder die eine noch die andere Klassifizierung zutreffen will, zu ihnen zählt man in Polen Krystina Lars, Tomasz Jastrun, Anna Janko oder Maciej Cislo. Spätestens hier ist noch eine zweite Differenz erwähnenswert. Anders als wir es aus der zeitgenössischen deutschsprachigen Literatur kennen, ist in der polnischen die Auseinandersetzung mit der Religion sichtlich präsent, tauchen religiöse Sprachkomponenten immer wieder innerhalb der Dichtkunst auch der jüngeren Generation auf. Auch das hängt eng mit der Geschichte des Landes zusammen und der Rolle des Katholizismus, der für das polnische Volk immer auch weltlicher Zufluchtsort in den Jahren von Repression und Anpassungsdruck war. Wenn Krystina Lars schreibt "tu etwas/ ring die Hände/ bete", so hat das eine mehrschichtige Bedeutung, die weit außerhalb irgendeiner fatalen Frömmigkeit liegt. Das muß man, als unpolnischer Leser, mitlesen. Zu den Dichtern und Dichterinnen, die in den letzten beschriebenen zwei Jahrzehnten debütierten, die also noch zu der jüngeren Schriftstellergeneration Polens zählen, gehören sämtlich die für diese lange Nacht der Lyrik eingeladenen. PIOTR SOMMER, KRYSTYNA LARS, BRONIS”AW MAJ und MARZANNA KIELAR veröffentlichten ihre ersten Bände Anfang der Achtziger, MACIEJ NIEMIEC Ende der Achtziger und ANDRZEJ STASIUK Anfang der Neunziger. Sie charakterisiert alle eine gewisse Eigenständigkeit, eine unverwechselbare Stimme innerhalb der in Polen definierten Strömungen und Gruppierungen. Die Gedichte, die sie lesen werden, sind unmittelbar entstanden, sie stammen aus ihren jüngsten Veröffentlichungen bzw. aus ihren Manuskripten und wurden extra für diese Abende übersetzt, da sie – bis in wenigen Zeitschriften – auf Deutsch noch nicht veröffentlicht sind. Als Besonderheit kommt hinzu, daß sie außerdem alle an Zeitschriften mitarbeiten oder mitarbeiteten, als Redakteur oder wie Sommer und Kielar Chefredakteur, bzw. wie Stasiuk einen eigenen Verlag besitzen. Das macht sie natürlich in doppeltem Sinn zu interessanten Gesprächspartnern. Zwischen den zwei einstündigen Leseblöcken – jede Autorin, jeder Autor hat 15 Minuten für seine Lyrik (polnisch/deutsch) – gibt es eine Diskussion zur aktuellen Lage der Poesie und der Zeitschriften in Polen. Für die Organisation und Konzeption des Abends ist Cornelia Jentzsch verantwortlich, die Moderation und Übersetzung hat Renate Schmidgall übernommen.